Quo vadis? (Ein Blogparadenbeitrag zu möglichen Bartrends im Jahr 2017)

Auf dem Blog cocktailsworld.net wurde jüngst eine Blogparade zur Frage ausgerufen, mit welchen Trends und Entwicklungen wohl die Barszene im Jahr 2017 rechnen könne. Welche Spirituosen werden im Mittelpunkt stehen und was wird die Nachfrage bestimmen? Über solche Fragen gilt es, sich in diesem Zusammenhang Gedanken zu machen. Auch viele andere meiner geschätzten Bloggerkollegen nehmen an der Blogparade Teil und haben z.T. bereits ihre Gedanken zur Zukunft der Barszene schriftlich festgehalten. Nun möchte auch ich mich zur Thematik äußern. Auch wenn mir das aus mehreren Gründen gar nicht so leicht fällt.

Meine erste Reaktion als ich von der Blogparade erfuhr und gefragt wurde, ob ich gerne mit beitragen möchte, war tatsächlich in etwa: „Ich bin nicht der Richtige für dieses Thema.“ Das hat weniger damit zu tun, dass ich notorisch tiefstapeln will, sondern vor allem damit, dass ich tatsächlich viel weniger vom „Szenealltag“ mitbekomme als viele andere. Und auch das hat seine Gründe: Zum einen wohne ich im Ruhrgebiet. Das ist per se erst einmal entgegen manch landläufiger Meinung nichts Schlechtes, ich liebe das Ruhrgebiet, seine Mentalität, Geschichte und breite Bevölkerungspalette, aber in puncto Barszene lebt man im Vergleich zur restlichen Großstadtlandschaft Deutschlands eher in einer Art Diaspora bezüglicher dieser Themen. Trotz einiger ganz solider Bars würden also die Bartrends 2017 vermutlich frühestens Anfang 2019 hier ankommen. Aber dazu komme ich auch weiter unten noch einmal. Ein weiterer Grund ist zudem der, dass ich jüngst Vater geworden bin und sich die Ausflüge in andere Städte, auf Barconvents und Messen – überhaupt Besuche in der Gastronomie im letzten halben Jahr – rapide verringert haben bzw. gar nicht stattfanden. Die Tributforderungen eines Säuglings sind eben nicht zu unterschätzen. 😉

Zum Glück gibt es aber ja noch andere Wege, am Ball zu bleiben. Klar, wenn ich als Blogger sage, dass ich ohne das Internet aufgeschmissen wäre, dann ist das natürlich eine Binsenweisheit, aber auf mich trifft die Aussage dennoch momentan gleich in mehrfacher Hinsicht zu. Aber genug des Vorgeplänkels: wage ich doch einmal einen Blick in die Glaskugel.

Zunächst will ich auf Spirituosenarten zu sprechen kommen. Das ist vermutlich auch der Themenbereich, den die meisten wohl unter einem solchen Artikel erwarten. Im Grunde sehe ich hier auch ähnlich Tendenzen wie viele meiner Kollegen, aber der Reihe nach.

Eau de Vies (Obstbrände bzw. Obstgeiste)

Von Obstbränden erwarte ich mir in nächster Zeit eine ganze Menge. Allerdings muss man das Thema auch ein wenig mit Vorsicht betrachten, denn hier stehen sich zwei relativ starke Fronten gegenüber, die eine genaue Prognose definitiv erschweren: die eine ist die große und Jahrhunderte alte Tradition der Obstdestillation im deutsch- und französischsprachigen Raum, der man immer wieder begegnet, wenn man sich die Geschichte verschiedener Destillen anschaut, die inzwischen u.a. auch Gin und Whisky hierzulande herstellen. Insofern verwundert es schon fast, dass man nicht häufiger Obstbrandcocktails antrifft. An der Verfügbarkeit sollte es jedenfalls nicht scheitern. Natürlich spielt auch das leicht angestaubte Image eine Rolle, aber hier prognostiziere ich eine deutliche Verbesserung.
Die andere Front besteht in der starken Unterrepräsentation von Obstbränden in der amerikanischen Barkultur und –geschichte. Natürlich gibt es einige Cocktailrezepte, die auf Eau de Vies setzen und auch waren Obstbrände im 19. Jahrhundert und davor nicht unbekannt (nicht zuletzt brachten deutsche Einwanderer auch die Kunst der Obstdestillation mit in die neue Heimat), aber wirklich in der Breite gibt es nur sehr, sehr wenige Cocktails von Weltruhm. Gin, Whiskey, Cognac, auch Wodka – all diese Spirituosen blicken auf ein Zigfaches an tradierten Rezepturen zurück. Es ist also noch viel Pionierarbeit erforderlich. Aber hier sehe ich auch eine Chance, denn ich würde vermutlich in 99% der Fälle ein Eau de Vie einem aromatisierten Wodka vorziehen. Und auch Gin lässt sich manchmal schön durch einen Obstbrand oder –geist substituieren. Auch als Ergänzung für Sirups oder Früchte ist ein gutes Eau de Vie eine tolle Sache. Ich glaube jedenfalls an einen kleinen Durchbruch.

Mezcal & Tequila

Aus Mexiko versorgt uns schon länger eine Welle von neuen Geschmacksimpressionen, die sich aber nun auch verstärkt ihren Weg ins Breitenpublikum bahnen könnte. Die Vielfalt im Bereich der Mezcals hat auch mich in den letzten Jahren völlig überzeugt und oft regelrecht begeistert und hier bin ich mir sicher, dass man daraus immer mehr massentaugliche Drinks am Fließband zaubern wird. In den USA ist das Thema zwar auch noch relativ jung, aber längst im Herzen der Barwelt angekommen. Und da gehören die Agavenbrände auch hin. Gleiches gilt natürlich auch für Tequila, der zwar in sich ein wenig mehr Homogenität als die komplette, über die blaue Agave hinausgehende Mezcalpalette aufweist, trotzdem aber auch weit mehr zu bieten hat als lediglich den berühmt berüchtigten Vertreter mit dem roten Hut und seine beiden Freunde Salzstreuer und Zitronenscheibe.

Rhum Agricole

Rhum Agricole sehe ich mittelfristig als den großen Gewinner des „Rumskandals“ um die Beisetzung von teils doch überraschend großen Mengen an Zucker. Ohne mich jetzt hier persönlich zur Thematik positionieren zu wollen (dazu müsste ich weiter ausholen), ist es doch schon ziemlich bezeichnend, dass kaum ein Rumtasting und kaum ein Gespräch zum Thema Rum inzwischen ohne die Diskussion um den „Zuckerzusatz“ auskommt. Und man hört mehr und mehr Empörung in diesem Bereich heraus, nicht unerheblich viele Leute fühlen sich einfach veräppelt. Klar, nicht alle Rums sind davon betroffen, doch werden die „ehrlicheren“ Rums meines Erachtens nach es trotzdem nicht leicht haben, bedingt durch ein allgemeines Problem des Rums: das chaotische Durcheinander an Regularien und Herkunftsländern, das der Rumgeschichte bis heute seinen Stempel aufdrückt. Doch die Rhum Agricoles aus den französischen Überseegebieten machen da eine Ausnahme, da hier weitestgehend verlässliche Regeln eines EU-Erzeugnisses vorliegen. Das wird mehr und mehr die Runde machen. Es ist auch viel einfacher, sich das zu merken. Im Gegensatz zum Kopfzerbrechen darüber, welche Marke sich in welchem Land nochmal wie genau zum Thema Zuckerzusatz positioniert. Und da Rhum Agricole ein tolles Produkt ist, sehe ich sowohl im Bar- als auch im Sippingsegment gestiegenes Potential. Das erkläre ich auch noch weiter im nächsten Punkt.

Es gibt sicherlich noch weitere Entwicklungen, die hier eine Erwähnung finden könnten, z.B. das Thema Blends als Reaktion auf die zunehmende Entwicklung hin zu NAS-Abfüllungen beim Whisky (oder solch illustre Trends wie Coffee Gin & Tonics oder warum Biercocktails – anders als in den USA – in Deutschland nicht so richtig zünden wollen usw.), aber ich möchte vielmehr noch auf zwei bis drei allgemeine Entwicklungen eingehen, die zum Teil eng miteinander verzahnt sind.

Die Puristengemeinde wird sich mehr den Cocktails öffnen

Ich bekomme es mehr und mehr mit: Die Leute werden aufgeschlossener gegenüber Cocktails. Vor allem auch jene, die lange Zeit eher die Stirn zum Thema runzelten oder gar pauschal alles Vermischte abgelehnt haben. Das hat sicherlich seine Gründe. Zum einen bekommen die Leute mehr und mehr mit, wie sich Cocktailbars als gehobene gastronomische Einrichtung an vielen Orten etablieren und dass hinter dem Thema deutlich mehr als bunte Gläser mit Schirmchen steckt (s. dazu auch den nächsten Punkt), vor allem aber glaube ich, dass auch die Zeit ihren Beitrag leistet: Viele heutige Whiskykenner (aber auch Rum- oder sogar Ginpuristen) sind schon eine ganze Weile dabei. Sie besuchen Messen, besichtigen im Urlaub Destillen und wissen einfach eine ganze Menge über das Thema – das Fachwissen über Whisky ist beim durchschnittlichen Whiskygenießer meist erstaunlich hoch. Aber nach vielen Jahren und einer sich eher verbraucherunfreundlich entwickelnden Markt- und Preislage tritt ein Effekt ein, den viele vielleicht vor einigen Jahren noch nicht gedacht hätten: Es wird ein bisschen langweilig und so ist der Blick über den Tellerrand einfach verlockender als früher. Das liegt natürlich auch daran, dass immer weniger auf dem eigenen Teller landet (fürs gleiche Geld versteht sich).

Das allgemeine Bewusstsein wird zunehmen

Ich hatte es im vorherigen Absatz bereits angesprochen: Mehr und mehr Leute kommen dahinter, dass Cocktailbars wirklich verdammt coole Läden sein können, in denen man etwas völlig anderes geboten bekommt als viele vielleicht aus ihrer Jugend gewohnt sind. In Hamburg, Berlin oder München mag das schon mehr Leuten bewusst sein und wenn ich manchmal in bestimmten Szenemagazinen blättere, dann bekommt man manchmal auch das Gefühl, die Barwelt bestünde auch nur aus Bewohnern solcher Städte. Aber in Wahrheit sind es gerade die aus dem Boden sprießenden Bars in den restlichen Städten des Landes, die mich zu meiner Einschätzung gelangen lassen. Diese sind vielleicht nicht immer Trendsetter und übernehmen manchmal einfach erfolgreiche Konzepte aus besagten Metropolen, aber trotzdem lassen sie viel mehr Rückschlüsse auf das Bewusstsein der Breitenbevölkerung zu. In letzter Zeit erzählen mir auch Leute aus meinem erweiterten Bekanntenkreis oder der Verwandtschaft, wie sie hier und da eine neue Bar besucht haben, in der ihnen ganz wunderbare Cocktails serviert wurden. Manchmal mit Zusätzen wie: „Und das Barpersonal hat uns ganz toll beraten. Die haben dir zu jedem Cocktail richtig was erzählt.“ Wohlgemerkt sind das Erzählungen von Menschen, die noch vor zwei Jahren überhaupt nicht auf die Idee gekommen wären, eine Cocktailbar zu besuchen. Dass Gin & Tonics angesagt sind, hat vermutlich inzwischen sogar der Letzte mitbekommen und oft hängt da eben auch noch ein „Rattenschwanz“ an Bargeflüster mit dran, das die Leute eben auf eine neue gastronomische Entwicklung aufmerksam macht.

Die Szene wird sich weiter ausdifferenzieren

Klar, es gibt sie: die mehr oder weniger standardisierte, moderne Cocktailbar. Dort bekommt man Gin & Tonics in fancy Weingläsern mit allerlei Gemüse, eine ständig wechselnde Empfehlungskarte und einige ausgewählte Klassiker stilecht vor den Augen zubereitet. Aber längerfristig wird eine Ausdifferenzierung immer mehr Schule machen. Vor allem vor dem Hintergrund der facettenreichen Geschichte der Bar samt all ihrer Drinkkategorien, die viele noch nicht kennen. Bereits jetzt sieht man in den Metropolen eine solche Entwicklung: Auf Highballs spezialisierte Bars, auf Shots spezialisierte Bars, postkonventionelle Retro-Tiki-Bars, Speakeasys, französisch inspirierte Bars, Shortdrink-Bars usw.
Wenn man einen internationaleren Blick wählt, ist die Ausdifferenzierung noch deutlicher erkennbar. Natürlich hatten Bars schon immer ein gewisses Flair und eine gewisse Grundatmosphäre, die sie zu erzeugen gedachten, aber ich habe hier noch eher die Art der angebotenen Drinks im Sinn. Allerdings muss ich eingrenzen, dass – entgegen zum vorherigen Punkt – ich hier dann doch zuerst an die großen Metropolen denke, in denen solche Entwicklungen meist zuerst eintreten und dann erst nach und nach in anderen Städten Einzug halten.

Sicherlich wird der aufmerksame Leser bemerkt haben, dass ich das Wort bzw. die Jahreszahl „2017“ entgegen des eigentlichen Blogparadethemas nicht wirklich oft gebraucht habe. Man könnte mir vorhalten, mich ein wenig zu sehr hinter allgemeinen Prognosen versteckt zu haben, aber ich muss auch tatsächlich sagen, dass mir eine Einengung einer solchen Prognose auf einen exakten Jahresrahmen nicht so wirklich gut von der Hand gehen mag. Daher will ich noch einmal vorsichtig hinzufügen: All die genannten Entwicklungen sehe ich auch für das Jahr 2017, kann aber natürlich nicht im Einzelfall sagen, wie lang die Entwicklung noch weiterhin laufen wird, wann sie richtig Fahrt aufnimmt usw. Dann sind da auch noch die regionalen Unterschiede: Was in Berlin und Hamburg 2017 geschieht, passiert in Stuttgart vielleicht 2018 und in Dortmund dann nicht vor 2019. Zumindest ist es momentan oft noch so. Ausnahmen bestätigen aber natürlich auch hier die Regel (ich schmeiße den Fünfer dann später ins Phrasenschwein).

Ich finde allerdings persönlich, dass man Trends auch einfach mal gut sein lassen muss. Ich rühre mir jedenfalls auch 2017 noch gern trockenen Noilly Prat in meinen Martini, auch wenn das total 2007 sein mag.

(Die Beiträge anderer Blogger zum Thema finden sich hinter diesem Link.)

2 thoughts on “Quo vadis? (Ein Blogparadenbeitrag zu möglichen Bartrends im Jahr 2017)

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